
Neuapostolische Kirche
Westdeutschland
Witten/Dortmund. Das Harmonium als Kircheninstrument in der Zeit um die Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert war Thema einer Harmonium-Ausstellung, die der Wittener Harmoniumliebhaber und -sammler Werner Silva in der Woche vom 21. bis 26. Juni 2010 präsentierte. Die Ausstellung fand statt im Rahmen der RUHR.2010-Aktivitäten während der Local Hero-Woche in Witten (Bezirk Ennepe-Ruhr).
Klangproben, Mitsingaktionen, Konzertdarbietungen und ein umfassendes Informationsangebot rund um das zunehmend in Vergessenheit geratende Instrument rundeten die Ausstellung ab, in der es einige interessante Exponate zu sehen und zu hören gab.
Einen Blick in die Fimengeschichte des Harmonium-Herstellers Beyer aus Bielefeld gestatteten die Gebrüder Erhard und Friedrich Beyer. In der Blütezeit des Harmoniums gab es etwa 2.000 Beyer-Harmoniums in neuapostolischen Versammlungsstätten und Kirchen, fast zwei Drittel der je vom Harmoniumbauer Beyer produzierten Instrumente.
Harmonium lässt stufenlose Dynamik zu
Das Harmonium gilt als eines der jüngsten historischen Instrumente. Seine Ursprünge gehen auf die Jahre um 1790 bis 1830 zurück - gerade in die Zeit, als das Pianoforte das Cembalo ablöste. Wegen seiner gestalterischen Vorteile in größerer Ausdruckskraft und besserer Dynamik machte das Klavier dem Cembalo Konkurrenz.
Genau in dieser Zeit gab es bei Instrumentenmachern und Musikern Bestrebungen, der Orgel mit ihren eingeschränkten dynamischen Möglichkeiten quasi "Flügel" zu verleihen - also für eine bessere Ausdrucksfähigkeit und Expressivität auch bei diesem Instrument zu sorgen. Expressivität meint in diesem Zusammenhang eine stufenlose Dynamik - ein allmähliches An- und Abschwellen der Klangfülle des Instrumentes.
"Durchschlagende Zungen"
Durchschlagende Zungen - so der Fachbegriff für Metallplättchen, die durch einen Luftstrom zum Schwingen gebracht werden - schienen die Lösung für den gewünschten Klangeffekt zu sein. So baute man Register mit solchen Zungenstimmen in Orgeln ein. Später entstanden Instrumente, die nur noch Zungenregister besaßen.
Ihr Vorteil basiert auf dem Effekt, dass durch unterschiedlich starke Luftströme nicht - wie bei der Orgel - die Tonhöhe beeinflusst wird, sondern nur die Tonstärke. Der Harmoniumspieler konnte somit durch schnelleres oder langsameres Treten der Schöfbalgpedale den Winddruck und dadurch die Tonstärke regulieren. Dem Wunsch nach Expressivität stand nichts mehr im Wege. Außerdem waren Harmoniums resistenter gegen Temperarturschwankungen und nicht so wartungsintensiv.
Ersatz für Pfeifenorgeln
Im Jahr 1842 erwirkte ein französischer Instrumentenbauer ein Patent für ein genau definiertes Instrument mit dem Namen ‘Harmonium’, das bereits alle wesentlichen Merkmale des heutigen Harmoniums vorwies. Der zwar in Frankreich patentrechtlich geschützte Name ist zu einem Begriff für genau die Instrumente geworden, die gegen Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine hohe Verbreitung fanden.
Sie galten als Ersatz für Pfeifenorgeln in kleineren Kirchen, als eine Art Heimorgel und Hausinstrument des bürgerlichen Mittelstands, wurden aber auch als veritable Konzertinstrumente entdeckt. In der Hausmusik machten sie die sakrale Musik heimisch, die mit einem Klavier nicht zu musizieren war. In der westlichen Welt wurden zeitweise (um 1900) doppelt so viele Harmoniums wie Klaviere verkauft.
Von den deutschen Harmoniumbau-Firmen sind insgesamt deutlich über eine halbe Million Instrumente hergestellt worden.
Elektronenorgel - Konkurrent des Harmoniums
Auch in religiösen Versammlungen spielte das Harmonium eine Rolle, weil es dem Klang der Orgel nahe kam, aber billiger war und auch in kleineren Räumen aufgestellt werden konnte.
Noch existieren in einigen Jugendsälen und Nebenräumen neuapostolischer Gemeinden Harmoniums. Allerdings haben in den Kirchen, in denen keine Pfeifenorgeln vorhanden sind, zumeist die elektronischen Konkurrenten das Harmonium verdrängt.
Beyer lieferte Harmoniums bis nach Übersee
Erhard und Friedrich Beyer erinnern sich noch aus Erzählungen ihres Großvaters, des Firmengründers Louis Moritz Beyer, an Hermann Niehaus (1848-1932), den damaligen Stammapostel der Neuapostolischen Gemeinden.
Das im Jahr 1920 in Thüringen gegründete und 1928 zunächst nach Vlotho und später nach Bielefeld umgezogene Unternehmen pflegte intensive Geschäftskontakte zur Leitung der Neuapostolischen Kirche, die damals in Bielefeld zuhause war. Eine Anzahl von Harmoniums, die Beyer an die Neuapostolische Kirche geliefert hat, seien sogar per Schiff in die Vereinigten Staaten von Amerika (USA) verfrachtet worden, wusste Friedrich Beyer zu berichten.
Auch die Namen Hermann Niehaus, Sohn des Stammapostels und späterer Bielefelder Bezirksälteste, Karl Lihra (vormaliger Bezirksältester in Minden) und Friedhelm Deis gehen den Beyer-Brüdern noch geläufig über die Lippen.
Urkunde und Präsent
Werner Silva, der im Zuge seiner Harmonium-Liebhaberschaft den Kontakt zum Unternehmen Beyer gepflegt hat, überreichte den beiden eigens aus Bielefeld angereisten Gebrüdern eine Urkunde und ein Präsent als Dank und Anerkennung für die nachhaltige und stets zuvorkommende Zusammenarbeit, auch wenn es immer noch vereinzelt um Fragen und Wünsche bei Reparaturen von Harmoniums geht.
"Wandel durch Kultur - Kultur durch Wandel" ist die große Überschrift, unter der alle Veranstaltungen zur Kulturhauptstadt RUHR.2010 stattfinden. Das Motto aus der Feder des Gründers des Essener Folkwang-Museums, Ernst Osthaus (1874-1921), trifft auch die Harmoniumausstellung in Witten, so konstatiert Werner Slva.
Gemeindekultur
"Das Harmonium hat Geschichte geschrieben in den Gottesdiensten neuapostolischer Gemeinden in der Gründungszeit", gibt Silva seiner Begeisterung über das Instrument Ausdruck. Dort sei Gemeindekultur gewachsen.
"Das Suchen nach Gott und bleibenden Werten in einer Zeit von Verunsicherung und Krisen konnte nicht zuletzt auch dank einer musizierenden Gemeinde kultiviert werden - das Harmonium hat historische Bedeutung im Aufbau neuapostolischer Gemeinden in Nordrhein-Westfalen und darüber hinaus", so Silva in seinem Vortrag zum Thema: "Das Harmonium - nur eine schöne Erinnerung?"
Und wenn er die Pedale zum Erzeugen des Winddrucks tritt, dabei in die Tasten greift und zusätzlich seine Tenorstimme erhebt, kann man sich in der Tat die Gründerzeit christlicher Gemeinden zur vorletzten Jahrhundertwende zurückversetzt fühlen.
Abschlusskonzert
Den Abschluss der Ausstellungswoche bildete ein Harmoniumkonzert am Samstagabend. Der Dortmunder Organist Dietmar Korthals spielte auf einem historischen Instrument Werke von Carl Sattler (1874-1938), Max Reger (1873-1916) und Sigfrid Karg-Elert (1877-1933). Stefan Kutscher assistierte ihm bei der aufwändigen Arbeit des Registrierens.
Das interessierte Publikum danke mit kräftigem Beifall und bat um Wiederholung des eindrucksstarken Interludiums von Karg-Elert aus dessen Erster Sonate h-moll für Harmonium (op. 36). Alle dargebotenen Konzertbeiträge sind eigens für Harmonium komponiert worden und nicht von ungefähr in der Blütezeit dieses Instrumentes entstanden.
NAK.2010: Woche des Harmoniums I
2. Juli 2010
Text:
Günter Lohsträter
Fotos:
Günter Lohsträter
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